Sommernacht der Kulturen - weckt der Titel Erwartungen? Aber nicht zu knapp! 
Sommernacht der Kulturen in - Haltet euch fest - Neustadt in Holstein! 
Kaum hast du das gehört, fragst du dich doch, ob du dich verhört hast.
sommernacht der kulturen 1

Nein durchaus, Neustadt in Holstein. Okay, denkst du, und winkst innerlich ab, aber weil Freunde von dir mit ihrer Band auftreten, die eine sehr, sehr vertretbare Mucke machen, gehst du hin. Vielleicht mit einem spöttischen Grinsen im Gesicht, das noch breiter und noch spöttischer wird, als du feststellst, dass sie in einem Schuhgeschäft spielen müssen.

Aber was soll ich euch sagen, ich bin bekehrt. Ja ich gerate ins Schwärmen.
Wartet mal, womit fang' ich an: Mit dem katholischen Chor, Sankt Johannis in der Eska-Passage, der ganz und gar Unkatholisches zum Besten gab? Dem Trachtentanz vor dem Rathaus, der holsteinisches Brauchtum aufführte? Oder "Gesine & Friends" bei Schuh Glöckner, die "Diggi & Friends", meinen wunderbaren musikalischen Freunden, nicht ernsthaft Konkurrenz machen kann, aber sehr wohl eine solide Leistung abgeliefert hat (Gibt es evtl. einen verborgenen Zusammenhang zwischen Schuhen und Popmusik?)?
sommernacht der kulturen 2

Oder soll ich mit dem Poetryslam in der Sparkasse anfangen, der nicht ganz nach den wirklich harten Regeln abgehalten wurde (wenn das Publikum pfeift, musst du von der Bühne), aber durchaus Hörenswertes bot? Oder doch mit dem wackeren Mundharmonika-Spieler vor der Apotheke in der Brückstraße, der seinem einsamen Instrument manchen Gassenhauer entlockte? Oder - halt, stopp, jetzt weiß ich's:
Da war etwas auf den ersten Blick vollkommen Unspektakuläres.
Und zwar eine Diashow bei Immobilien Marquardt und Scharrer in der Hochtorstraße. Die gezeigten Bilder nahmen das interessierte Publikum mit auf eine Reise von Neustadt nach Grömitz. Richtig, sagt ihr, unspektakulär, aber so was von.
Stopp, sag' ich, der Witz war: Da waren an die 30 Einheimische versammelt, die Bilder waren aus der Vogelperspektive aufgenommen, und keiner von uns hatte seine heimatlichen Gefilde jemals aus diesem Blickwinkel betrachtet. Und ich sage euch, es war der reine Nervenkitzel, wann immer jemand das Gezeigte unter großem Hallo identifizierte und ordentlich Beifall kassierte. Und das war gar nicht so einfach. Weil du es ja noch nie so gesehen hattest, war es dir auf den ersten Blick fremd, und es dauerte immer eine ganze Weile, bis es dir wie Schuppen aus den Haaren fiel, dass das ja beispielsweise eine bestimmte Ansicht von Neustadt war (faszinierend und stundenlang nicht eingeordnet: Die Baustelle am Ostring). Mir als Merkendorfer sehr peinlich, und ich mag es kaum zugeben, dass ich mein süßes, kleines Dorf nicht erkannte, bis irgendjemand es laut herausbrüllte... Aber ich sage euch, ihr hättet es auch nicht erkannt.
Ja, Whao, das war was.
Ich bin dann schnell wieder zurückgelaufen ins Schuhgeschäft Armbruster, weil ich unbedingt noch das letzte Set von "Diggi & Friends" mitkriegen wollte: Marco: "Wake me up", Publikum: "Wake me up" und so weiter. Super! Ihr müsst sie einfach mal hören: Wiebke mit „Zombie" oder Diggi mit „Mit Pfefferminz bin ich Dein Prinz". Einfach schön.
sommernacht der kulturen 3

Dann hab' ich allerdings einen Fehler gemacht, den ich im nächsten Jahr bestimmt nicht noch einmal machen werde: Ich bin nach Hause gegangen und habe die Abschlussveranstaltung mit den Fackelschwimmern, dem kleinen Hafenfeuerwerk und dem Hafen übergreifenden Abschlussgesang der Massen („Kein schöner Land") versäumt. Davon müssen Euch andere erzählen. Und tatsächlich stellt das, was ich euch hier nahegebracht habe, nur einen kleinen Ausschnitt aus dem gesamten, ziemlich umfangreichen Angebot dar. Ich muss schon sagen, ich bin beeindruckt.
Lasst mich jetzt noch ein bisschen über den Begriff der Kultur philosophieren.
In der Ethnologie ist das, glaube ich, ein ziemlich neutraler Begriff. Der Entertainment-Gourmet dagegen verbindet mit diesem Begriff vermutlich ein Ereignis von besonderer (überregionaler) Qualität, in dem der Kunstgenuss aus Reinheit, Perfektion und so etwas wie einem Hype um das betreffende Ereignis erwächst.
Diese Sommernacht der Kulturen jedoch in unserem ländlichen Neustadt mit seiner wunderschönen Umgebung, hebt auf einen gänzlich anderen Kulturbegriff ab. Hier geht das Kunstschaffen mit dem Einheimisch-sein Hand in Hand. Hier sind Publikum und Performer miteinander vertraut, sie sind auf Du und Du und im Vordergrund steht, dass sie miteinander kommunizieren. Man kennt sich und schätzt sich wert über die Kunstfertigkeit der Darbietung hinaus, die zwar gegeben, aber nicht das zentrale Ereignis ist.
Das I-Tüpfelchen auf diesem sehr heimeligen Kulturbegriff ist die Ansiedlung der künstlerischen Darbietung in den Geschäften der Stadt, die währenddessen den Verkauf fortsetzen. Ein bisschen plakativ formuliert: Geld bekennt sich zu Kunst (Sie gibt ihr einen Raum) und Kunst adelt Geld, indem sie sich nicht scheut, genau dort stattzufinden, wo der Euro über den Tresen wächst.
Darüber lässt sich allerdings trefflich streiten, außerdem verbirgt sich dahinter eine uralte, teils sehr verlogen geführte Debatte über die Unvereinbarkeit von wahrer Kunst und Kommerz...
Egal, vergesst es.
Was ihr aber auf keinen Fall vergessen dürft - macht Euch einen Knoten ins Taschentuch - ist die nächste Sommernacht der Kulturen in Neustadt Holstein.
Geht unbedingt hin. Wir sehen uns da.
Ich froi mich schon.